Ein Erbstück für die ganze Familie – Das französische Stundenbuch Cod. 1576
Private Stundenbücher des späten Mittelalters sind meist sehr kostbar illuminiert und wenden sich an wohlhabende Käuferschichten. Dieses Exemplar aus Frankreich wurde innerhalb der Familie weitergegeben – und dazu mit einem eher ungewöhnlichen Gegenstand geschmückt.
Im Gegensatz zum individuell eingerichteten Gebetbuch, das im Juni 2023 vorgestellt wurde, folgt dieses Stundenbuch der klassischen Anlage der privaten Andachtsbücher: Es soll die Gebetszeiten der Klöster (sog. Stunden oder Horen) mittels betrachtender Gebete und Psalmen mit Blick auf die Heilsgeschichte nachvollziehen. So finden sich darin ein ausführliches Marienoffizium, ein Kreuz- und ein Heilig-Geist-Offizium sowie die Totenvigil. Die sieben Bußpsalmen mit einer Litanei (fol. 91r), Evangelienlesungen sowie verschiedene Gebete zu Jesus und Maria runden die Texte ab.
Zu Beginn steht auch hier wieder ein Kalendarium mit den Herren- und Heiligenfesten des Kirchenjahres, in dem – durchaus bemerkenswert – jeder Tag besetzt ist (fol. 1r). Trotz der in französischer Sprache verfassten Auflistung sind keine lokal oder regional bedeutenden Heilige zu erkennen, so dass sich Herkunft oder Bestimmungsort der in gotischer Textualis geschriebenen Handschrift nicht weiter eingrenzen lassen. Wie schon die als „römisch“ charakterisierte Gebetsfolge in der offiziösen, lateinischen Fassung weist dieses Fehlen individueller Merkmale darauf hin, dass die Handschrift für den freien Markt hergestellt wurde. Aufgrund ihrer Buchmalerei lässt sie sich lediglich im Norden/Nordosten Frankreichs um die Mitte des 15. Jahrhunderts verorten. Auf diese Region verweist auch der Einband aus braunem Kalbleder mit blindgeprägten Stempeln, der wohl im frühen 16. Jahrhundert von dem bekannten Verleger und Buchbinder Macé Panthoul in Troyes angefertigt wurde.
Das Marienoffizium ist am ausführlichsten untergliedert in Vigilien, Laudes, Prim, Terz, Sext und Non sowie Vesper und Komplet. Der Beginn der einzelnen Horen ist jeweils durch eine prachtvoll gestaltete Zierseite in Deckfarbenmalerei hervorgehoben. Acht Miniaturen, die jeweils eine halbe Seite einnehmen, zeigen Szenen aus der Kindheit Jesu sowie die Krönung Mariens (fol. 78r); darunter stehen auf vier Textzeilen die einleitenden Gebete. Jedes Bild ist umgeben von einer Vollbordüre aus goldenen Dornblatt- oder Efeuranken, die beherrscht werden von einem meist dreiteiligen Mittelstab, aus dem farbenprächtige Blüten, Früchte und Akanthusblätter sprießen.
Fünf weitere derartige Zierseiten markieren den Beginn der Bußpsalmen, wo König David im Gebet dargestellt ist (fol. 91r, s.o.), sodann die Kreuz-, Heilig-Geist- und Totenoffizien und die abschließenden Mariengebete. Mit diesem Teil, an dessen Beginn die Miniatur von Maria mit Kind und musizierendem Engel in einem geschlossenen Garten (hortus conclusus) steht, geht der Text aus dem Lateinischen wieder in die mittelfranzösische Volkssprache über (fol. 157r). Deutlich sucht dieses Stundenbuch also seine Benutzerinnen im Bereich des Adels oder gebildeten Bürgertums.
Vom Gebrauch dieses Buchs durch vermögende Frauen zeugen denn auch etliche Besitzeinträge auf den Vorblättern, die mit dem Namen Claudine Platet im Jahr 1510 beginnen. Eine Josephte Robert notierte 1586 die Erhebung ihres Mannes George Segault in den Ritterstand sowie die Geburt – und teilweise den Tod – von 11 Kindern. Ihre 1591 geborene Tochter Anne Segault erbte das Buch (p. V3), doch abschließend steht zweimal der Name „Arthault“ unter den Einträgen, vielleicht eine spätere Besitzerin.
Ein damit zusammenhängendes Kuriosum in dieser Handschrift lässt sich nur bei genauem Hinsehen entdecken: In der rechten oberen Ecke von fol. 28r wurde offenbar mit vier Stichen ein quadratisches Pilgerzeichen angebracht. Solche Plättchen waren, dem hohen Stand ihrer Besitzer entsprechend, meist aus Silber angefertigt und zeigen die Wertschätzung, die den innerhalb der Familie weitergegebenen Gebetbüchern entgegengebracht wurde. Die Abdrücke der perlenartig gestalteten Ränder lassen sich noch deutlich auf dem Rand des gegenüberliegenden fol. 27v (Bild) erkennen. Da sich das Medaillon am Beginn des Marienoffiziums befunden hat, dürfte es ein rund gerahmtes Porträt der Gottesmutter gezeigt haben – und ging wohl aufgrund seines Materialwerts später verloren.