Thomas von Aquin benutzt die Dombibliothek – Das 'Corpus Dionysiacum' in Cod. 30
Von 1248 bis 1252 studierte Thomas von Aquin in Köln Theologie bei Albertus Magnus. Im studium generale des Dominikanerordens war er aber auch als Alberts Assistent tätig und leistete wissenschaftliche Vorarbeiten - indem er Kommentare in eine Handschrift aus der Dombibliothek eintrug.
Am 7. März jährte sich zum 750. Mal der Todestag des bedeutenden Theologen und Philosophen Thomas von Aquin. Mit 20 Jahren war der junge Adlige in Neapel in den Dominikanerorden eingetreten, studierte in Paris bei Albertus Magnus und wurde zusammen mit diesem 1248 nach Köln geschickt. Hier wirkte er vier weitere Jahre lang als Alberts Student und Assistent am studium generale des Dominikanerordens, der Keimzelle für die spätere Universität zu Köln. Nach dem Vorbild seines Lehrers brachte Thomas das philosophische Denken des Aristoteles in sein gewaltiges Werk ein und gab damit der Theologie den Charakter einer Wissenschaft. Eine dreiteilige Sendereihe im k-tv folgt in diesen Tagen den „Spuren des Thomas von Aquin in Köln“. Darunter sind auch Spuren, die der junge Wissenschaftler im altehrwürdigen Codex 30 der Kölner Dombibliothek hinterlassen hat (fol. 16r).
Codex 30 enthält die vier Werke eines Dionysius über die himmlische Hierarchie, die kirchliche Hierarchie, die Namen Gottes und die mystische Theologie sowie zehn Briefe desselben Autors (fol. 5v). Der Verfasser war wohl ein syrischer Mönch, der um 500 n. Chr. in Antiochia lebte. Weil jedoch die auf Griechisch verfassten Briefe fiktiv an den Paulusschüler Timotheus adressiert sind, sah die Tradition in Dionysius zunächst den laut Apostelgeschichte 17,34 von Paulus auf dem Areopag bekehrten Heiden, der dann der erste Bischof von Athen geworden sei. Im 8. Jahrhundert verschmolzen beide – Bischof und Autor – mit dem Märtyrerbischof Dionysius, der im 3. Jahrhundert in Paris missioniert haben soll und dort als Saint-Denis verehrt wird. In dem Kloster an seiner Kultstätte, die auch zur Grablege der merowingischen Könige wurde, entstanden im 9. Jahrhundert in kurzem Abstand gleich zwei Übersetzungen der Schriften des Dionysius ins Lateinische. Die legendarische Vermischung von Apostelschüler und Nationalheiligem erklärt jedenfalls die überaus große Bedeutung, die der angebliche Dionysius Areopagita mit seinen Schriften für die Theologie des Mittelalters erlangte.
Auch Albert der Große hatte in seiner Pariser Zeit diese Werke samt den bis dahin entstandenen Kommentaren kennengelernt und selbst mit einer Kommentierung des Corpus Dionysiacum begonnen (fol. 11r). Er folgte dabei vor allem zwei lateinischen Übersetzungen: jener des Johannes Eriugena aus dem 9. Jahrhundert sowie einer, die im 12. Jahrhundert von Johannes Sarracenus angefertigt wurde. Mit dem Einschub „alia translatio“ verweist Albert immer wieder auf die jeweils andere Übersetzung, wenn er einen Gedanken von Dionysius verdeutlichen möchte. Bei der Edition des Kommentarwerks Alberts des Großen bemerkte Dr. Maria Burger, Editorin am Albertus-Magnus-Institut in Bonn, dass jedoch noch eine dritte Übersetzung im Spiel sein musste – und sie fand diese in Cod. 30 der Dombibliothek.
Vordergründig enthält Cod. 30 die Übersetzung des Johannes Eriugena – diese allerdings in einer früheren Fassung, die in nur drei Handschriften überliefert ist. Die Abschrift der Dombibliothek entstand im 10. Jahrhundert im Benediktinerkloster Amorbach im Odenwald. Sie umfasst 103 Blätter, die in dunkelbrauner karolingischer Minuskel von verschiedenen Händen beschrieben wurden. An den Rändern stehen in kleinerer Schrift kurze Bemerkungen zu einzelnen Textstellen, die aus einem früheren Kommentar stammen; mit Buchstaben und Verweiszeichen sind sie an den Text gekoppelt. Buchschmuck findet sich nur spärlich: Als Auszeichnungsschrift etwa für Kapitelüberschriften wurde eine Capitalis rustica in orangerotem Minium verwendet. Initialen sind teilweise ebenfalls in Minium ausgeführt, zum Teil auch nur in Tinte mit roter Schattierung. Diagramme, meist am unteren Blattrand positioniert, verdeutlichen schwierige Textinhalte. Auf der ersten Seite findet sich ein Besitzeintrag des Kölner Doms, der wohl aus dem 12. Jahrhundert stammt; ergänzt ist er durch einen wesentlich späteren Vermerk, nach dem das Buch kurzzeitig an die Kölner Franziskaner ausgeliehen wurde (fol. 2r).
Offensichtlich gehörte jedoch auch Albertus Magnus zu den Entleihern dieser Handschrift, denn mit Cod. 30 hatte er eine dritte, frühere Übersetzung der Werke des Dionysius Areopagita zur Hand, wie aus seinem Kommentar hervorgeht. Schon immer war aufgefallen, dass im Codex eine Hand des 13. Jahrhunderts mit einem Metallstift weitere Glossen eingetragen hatte, sowohl zwischen den Zeilen als auch am Rand (fol. 10r). Es handelte sich dabei offenbar um Textvergleiche mit den beiden anderen Übersetzungen, die von Albert grundlegend für seinen Kommentar benutzt wurden. Auch inhaltliche Erläuterungen wurden eingefügt, die sich später bei Albert wiederfinden. Lange Zeit dachte man daher, dass Albert selbst diese mühevolle Arbeit des Vergleichens und Kommentierens vorgenommen habe. Dr. Maria Burger konnte allerdings durch Schriftvergleiche eindeutig feststellen, dass die Einträge von dessen Schüler Thomas von Aquin stammen. Sie merkt an, dass Thomas hier sehr schnell und flüchtig schrieb, da er die gotischen Buchstaben fast nur aus unverbundenen Schäften bildete, was das Lesen erschwert. In der Verwendung von Kürzungen (Abbreviaturen) war er jedoch sehr genau. Eine in Neapel erhaltene Vergleichshandschrift, die ebenfalls von Thomas in jungen Jahren geschrieben wurde, bestätigt diese Beobachtungen.
Die Glossen in Cod. 30 dokumentieren damit unzweifelhaft, dass Thomas von Aquin in Köln als Assistent von Albertus Magnus tätig war und ihm mit seinem präzisen Textvergleich zuarbeitete für die Kommentierung des Corpus Dionysiacum. Die inhaltlichen Eintragungen geben zum einen Gedanken Alberts wieder, die Thomas in den Seminaren bei ihm notierte, lassen aber auch eigene Reflexionen erkennen, die er über die Schriften des Dionysius anstellte (fol. 14r). Insbesondere dessen neuplatonisch geprägte negative Theologie – nach der der Mensch von Gott letztlich nur wissen kann, wie dieser nicht ist – hat den Aquinaten und damit das gesamte mittelalterliche Denken über Gott stark beeinflusst. Wer es schafft, die schwer zu lesenden Eintragungen des Thomas in Cod. 30 zu entziffern und zu verstehen, kann damit gleichsam dem großen Theologen bei der Entwicklung seines Denkens über die Schulter sehen. Bibliothekarinnen und Bibliothekare sehen es heute dennoch lieber, wenn Benutzende keine Anmerkungen in entliehene Bücher schreiben.