Der Kaiser und die Heilsgeschichte – Buchmalerei im Kölner Graduale Cod. 274
Großformatige Handschriften wurden noch lange nach Erfindung des Buchdrucks hergestellt. Dieses Chorbuch von 1531 greift in seinen Malereien die künstlerischen Moden der Renaissance auf – und zeigt sich zugleich beeindruckt von einem historischen Ereignis in der Stadt Köln im selben Jahr.
Erneut soll in dieser Kolumne ein Graduale vorgestellt werden, ein Chorbuch mit den Gesängen, die in der hl. Messe sowohl solistisch als auch von einer Schola vorgetragen wurden. Cod. 274 wurde im Jahr 1531 im Auftrag des Kölner Domkapitels bei den Fraterherren von St. Michael am Weidenbach hergestellt. Es ist wie üblich gegliedert in einen Teil mit den Eigengesängen für die Sonn- und Feiertage des Kirchenjahres (Proprium de tempore) (fol. 12v) sowie einen für die Heiligenfeste. Hier wiederum gibt es allgemeine Formulare für bestimmte Gruppen (Commune sanctorum) wie auch eigene Kompositionen für bedeutendere Heilige (Proprium de sanctis). Es folgen die in jeder Messe vorgetragenen Ordinariumsgesänge (Kyrie, Gloria, Alleluia, Credo, Sanctus, Agnus Dei). Cod. 274 erweitert diesen verbreiteten Grundbestand mit einer Sammlung von Sequenzen – das sind freie lateinische Versdichtungen, die an besonderen Festtagen im Anschluss an das Alleluia gesungen wurden und das Festgeheimnis zum Teil legendarisch ausdeuten.
Die Entstehung des mit 55 x 37 cm recht großen Graduale fällt in eine Zeit, in der der Buchdruck längst etabliert war und die Produktion von Handschriften stark abgenommen hatte. Dennoch bestand offenbar immer noch Bedarf an solch großformatigen Chorbüchern, deren Herstellung die Drucker noch vor beträchtliche Herausforderungen stellten: Die Koordination von Noten- und Textdruck in Rot und Schwarz mit zusätzlicher Ausschmückung durch Holzschnitte oder Kupferstiche beherrschten noch nicht viele Offizinen. Die vor allem in Klöstern verbreiteten Eigenliturgien verhinderten zudem eine Herstellung in hoher Stückzahl, so dass sich ein Druck meist nicht lohnte. Erfahrene Buchmaler-Werkstätten konnten dagegen auf die inhaltlichen Wünsche der Auftraggeber genau eingehen und mittels farbenprächtiger, oft goldbelegter Malerei repräsentativ ausgeschmückte Prachtcodices im alten Stil herstellen. (fol. 18r)
So wurde auch das Graduale Cod. 274 reich mit Buchschmuck ausgestattet: Vierzehn Zierinitialen markieren wichtige Feste oder Abschnittsanfänge; sechs davon wurden zusätzlich mit einer vollständigen Seitenrahmung versehen, die ornamental ausgeschmückt oder überreich mit Pflanzen und Tieren bevölkert ist. Die Kunsthistorikerin Petra Güntgen-Knemeyer sieht in ihrer 2021 erschienenen Monografie über Cod. 274 hier „einen professionellen Buchmaler außerhalb des Scriptoriums“ am Werk, „der es verstanden hat, verschiedene europäische Strömungen der bildenden Kunst in seine Arbeit zu integrieren.“ Die Schreiber hingegen lassen sich eindeutig dem Kölner Fraterhaus zuordnen: In mehr als zwei Dutzend Cadellen, einfachen schwarzen Zierbuchstaben, haben sie in leicht übersehbaren Spruchbändern sowohl die Initialen ihrer Namen als auch das Produktionsjahr 1531 und den Ort „Widenbach“ (Weidenbach) versteckt (z.B. fol. 37r). Der Nekrolog des Klosters half, die Namen der Schreiber zu erschließen, die demnach Jacob von Emmerich, Wolterus Arnem und Johannes Cramp hießen (z.B. fol. 144r).
Von besonderem Interesse in diesem Codex sind allerdings die Miniaturen, die pointiert Szenen der Heilsgeschichte darstellen. Neben der Eröffnungsinitiale zum 1. Advent (fol. 1r), der Geburt Christi (fol. 12v) und der Anbetung durch die Hl. Drei Könige (fol. 18r) sind das Osterfest (fol. 81r), Pfingsten (fol. 97r) und Mariä Himmelfahrt (fol. 177r) mit solchen historisierten Initialen gestaltet, die in eine Seitenrahmung eingebunden sind. Auch der hl. Petrus als Patron des Kölner Doms wird in einer Initiale bildlich dargestellt (fol. 171v), allerdings ohne weitere Rahmung. Der schlüsselhaltende Apostel steht vielmehr unter einem braun-goldenen „N“ im Groteskenstil der Renaissance; es wächst aus einem Baumstamm mit Füllhorn heraus, ist mit Akanthusblättern überzogen und von Putten bevölkert.
Eine Überraschung hält die A-Initiale zum 1. Advent (fol. 1r) bereit, die das Graduale bildlich eröffnet. Dargestellt ist der alttestamentliche König David, der vor einer Stadtkulisse niederkniet und betet. Dieses häufig anzutreffende Sujet spielt darauf an, dass David traditionell als Dichter der Psalmen gilt, aus deren Texten sich die meisten liturgischen Gesänge bedienen. Die Gebetshaltung Davids illustriert gleichsam den Psalmvers: „Ad te levavi animam meam“ (Ps 24,1) – „Zu dir, Gott, erhebe ich meine Seele“, während die Stadtarchitektur vordergründig auf das himmlische Jerusalem verweist. Dennoch verbirgt sich in dem Bild auch ein konkretes historisches Ereignis, denn im Januar 1531 wurde Ferdinand I., der Bruder Kaiser Karls V., in Köln zum römisch-deutschen König gewählt und anschließend in Aachen gekrönt. Wer genau hinschaut, entdeckt denn auch in der Darstellung Davids die Gesichtszüge Kaiser Karls V. mit dem markant vorstehenden Kinn der Habsburgerfamilie. Das Ereignis der Königswahl in Köln mit dem Besuch des Kaisers und seines Bruders hat den Buchmaler offenbar derart beeindruckt, dass es in diesem Graduale seine Spuren hinterlassen hat.
Auch die scheinbar konventionelle Seitenrahmung verdient mehr Beachtung, wie sich der Monografie von Petra Güntgen-Knemeyer entnehmen lässt. Auf vier von sechs Rahmen (fol. 1r, 18r, 97r, 177r) sind Blumen, Pflanzen, Früchte und Tiere verstreut und fantasievoll miteinander verflochten – der Einfluss der Gent-Brügger Buchmalerei des 15. und 16. Jahrhunderts ist hier unverkennbar. Zwei Rahmen hingegen (fol. 12v, 81r) sind nach dem Vorbild italienischer Renaissanceformen mit Ornamenten gefüllt. Im Stil der Groteskenmalerei ahmt der Buchmaler von Cod. 274 hier letztlich die Fresken der römischen Antike nach, wie es seit der Wiederentdeckung der Domus aurea des Kaisers Nero im Jahr 1479 überall in Mode kam. Der Randbereich als traditioneller Ort von Kommentar, Humor oder Gegenwelten wird hierfür geradezu überbordend genutzt. So konterkariert die Randgestaltung von fol. 12v die lieblich-friedvoll dargestellte Geburt Christi mit einem deutlich erkennbaren Hinweis auf seine Kreuzigung – während gleich darunter zwei Phönix-Figuren auf die Auferstehung anspielen. Das gesamte Heilsgeschehen wird damit in einer einzigen Bildseite greifbar.