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08.07. - 26.07.1991

Datum:
8. Juli 1991

Der Volksverein für das katholische Deutschland

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Aufsatz anlässlich der Ausstellung des Stadtarchivs und der Stadtbibliothek Mönchengladbach in der Diözesan- und Dombibliothek Köln
08. - 26. Juli 1991

Quelle: Renovatio, 46. Jahrgang 1990, S. 119-126 

Autor: Wolfgang Löhr

Am 1. Juli 1933 ließ ein dafür aus Berlin angereister Sonderstaatsanwalt 12 Personen in Mönchengladbach in sogenannte Schutzhaft nehmen. Es waren Mitarbeiter des Volksvereins für das katholische Deutschland, unter ihnen der spätere Aachener Bischof, Johannes Joseph van der Velden, der, wie es im Polizeiprotokoll heißt, "aus Rücksicht auf seinen geistlichen Beruf ... im Volksvereinshause in Zimmerhaft genommen wurde".

Für die Nationalsozialisten stand fest, daß der Volksverein gegen sie eingestellt gewesen war, und der Staatsbauftragte zur Verwaltung des Volksvereinsvermögens hielt es 2 Wochen später für selbstverständlich, daß man die "kriminelle Korruption" des Volksvereins und seiner führenden Köpfe bald erweisen würde.

Aber im Dezember des gleichen Jahres endete ein von den Nationalsozialisten betriebener Prozeß vor der Großen Strafkammer des Landgerichts Mönchengladbach gegen den renommierten Pionier der Röntgenkunde Friedrich Dessauer und den Geschäftsführer der Frankfurter Carolus-Druckerei Josef Knecht, die den ebenfalls angeklagten Geschäftsführer des Volksvereinverlags Wilhelm Hohn zur Untreue angestiftet haben sollten, mit einem Freispruch. Das hinderte freilich den nationalsozialistischen Unrechtsstaat nicht daran, das gesamte Vermögen des Volksvereins einzuziehen und sein Verwaltungsgebäude als "Nationalsozialistisches Volkshaus" zu übernehmen.

Eine weitere Blamage wollten die Nationalsozialisten jedoch vermeiden. Deshalb ließen sie ein Verfahren - der große Volksvereinsprozeß genannt -gegen den bereits erwähnten Johannes Joseph van der Velden, den ehemaligen Reichskanzler Wilhelm Marx, den ehemaligen Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns und andere 1935 einstellen. Treffen wollten die neuen Machthaber mit solchen Maßnahmen den ihnen verhaßten Verbandskatholizismus, der sie in der sogenannten Kampfzeit heftig befehdet hatte. Ihn galt es in einem Schauprozeß zu diskreditieren.

Richtig war, daß der Volksvereinsverlag 1930 mit seinen Gläubigern einen Vergleich schließen mußte, um den finanziellen Zusammenbruch abzuwehren, und richtig war es ferner, daß die Hausbank des Verlags Konkurs anmeldete und leitende Angestellte der Bank 1932 wegen Betrugs verurteilt worden waren.

"Obwohl die Unterbilanz von 1,6 Millionen", so urteilt Emil Ritter nach dem 2. Weltkrieg, "nicht allein durch die Kreditgabe an den Volksvereinsverlag verursacht worden war, entlud sich die leidenschaftliche Erbitterung der geschädigten Gewerbetreibenden gegen die Organisation, die Mönchengladbach Weltruf verschafft hatte."

Was war dies für eine Organisation, was machte ihren Weltruf aus?

Der Volksverein entstand vor hundert Jahren auf Initiative des einflußreichen Präsidenten des Rheinischen Bauernvereins Felix von Loe, dem ein katholischer Zentralverein vorschwebte, dessen Hauptaufgabe die publizistische Auseinandersetzung mit dem 1886 gegründeten Evangelischen Bund sein sollte, der in scharfem Ton die Katholiken als ultramontane Befehlsempfänger verunglimpfte.

Die Bischöfe von Köln und Trier, Philippus Krementz und Felix Korum, waren zunächst dagegen, weil wie Korum meinte, durch einen solchen Bund den Katholiken Norddeutschlands Unannehmlich keiten entstünden. Doch Loe ließ nicht locker und gewann dann doch die beiden Bischöfe für sich, die jetzt dem Verein zustimmten, der in kleinen preisgünstigen Broschüren die Geschichte der Verfolgung der Katholiken durch die Protestanten publik machen sollte.

In einem unter Leitung des Fürsten Karl zu Löwenstein einberufenen Gremium zur Gründung des besagten Vereins setzte sich jedoch der aus Mönchengladbach stammende Fabrikant Franz Brandts, Vorsitzender des Verbands Arbeiterwohl, durch, der in Abstimmung mit Ludwig Windthorst, dem unbestritten führendem Kopf der Zentrumspartei, und unter Beratung des jungen Geistlichen Franz Hitze einen sozialpolitischen Verein aus der Taufe hob, der den Namen Volksverein für das katholische Deutschland erhielt.

Im ersten Paragraphen der Vereinssatzung wurde festgelegt, daß der neue Verband den "schweren Irrtümern und bedenklichen Umsturzplänen", die überall in Erscheinung träten und "die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung in ihren Grundlagen" be drohten - dabei wurde die Sozialdemokratie ausdrücklich genannt -,"mit vereinter und fest organisierter Kraft furcht los entgegentreten" sollte. Die Intention eines zentralen Massenvereins wurde zwar ausdrücklich bejaht, doch blieb die antisozialistische Tendenz im Vordergrund.

Brandts hatte sogar vergeblich dafür gestritten, die Bekämpfung der Sozialdemokratie in den Vereinsnamen aufzunehmen. In der dann gewählten neutralen Bezeichnung "Volksverein für das katholische Deutschland" sollte zum Ausdruck kommen, daß die neue Organisation ein Massenverein für die Katholiken Deutschlands sein sollte. Volk, das war, um mit dem Philosophen Ludwig Wittgenstein zu reden, eine Vokabel aus dem katholischen Sprachspiel. Das Wort war damals noch nicht ideologisch belastet. Einen Auspruch, wie ihn die DDP Reichstagsabgeordnete Gertrud Bäumer in den 20er Jahren tat, als sie Volk fast blasphemisch als "corpus mysticum der nationalen Gemeinschaft", das aus "Blut und Geschichte" geboren sei, bezeichnete, hätte 1890 niemand der führenden Katholiken bejaht. Sie verstanden unter Volk ganz naiv eine große Zahl von Menschen.

Es steckte darin aber auch eine Absage an irgendeinen Elitekatholizismus. Wie weit damals schon darin ein Bekenntnis zur Verantwortung der Laien gesehen wurde, läßt sich nicht mit letzter Sicherheit sagen. Gerade letzteres bestimmte jedoch im Lauf der Jahre die Geschichte des Verbandes, und Ludwig Windthorst hatte bereits im sogenannten Septennatsstreit um den Heeresetat 1886/87 die politische Autonomie der katholischen Laien gegenüber der Kurie und Mitgliedern des deutschen Episkopats hervorgehoben.

Die Ablehnung Windthorsts, Brandts und Hitzes, den Evangelischen Bund ins Visier zu nehmen und statt dessen die Sozialpolitik zu betonen, war schließlich auch ein Fingerzeig dafür, aus dem katholischen Ghetto ausbrechen zu wollen. Ein Ghetto, das, wie die Untersuchungen des Schweizer Zeithistorikers Urs Altermatt ergeben haben, die Katholiken zum Sammeln der Kräfte gewählt hatten, um sich der modernen Welt später zu stellen.

Franz Brandts hatte sich Zeit seines Lebens zur Industrialisierung und zur liberalen Wirtschaftsordnung bekannt und nie die Idee gestützt, die vergangene Agrargesellschaft, die große Teile der Katholiken geprägt hatte, wiederherzustellen. Auch mit einer Erneuerung des mittelalterlichen Ständewesens in moderner Form, wie sie der Freiherr Karl von Vogelsang propagierte, der den Kapitalismus für unvereinbar mit dem Christentum erklärte, konnte Brandts nichts anfangen. Statt dessen bejahte er den industriellen Fortschritt, wobei er schon früh auf eine Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer setzte und seinen Arbeitern den gerechten Anteil am Gewinn zu geben versuchte.

Die Zielsetzung des Volksvereins erwies sich sofort als erfolgreich. Mit einem dichten, über das ganze Reich gezogenen Netz von Vertrauensmännern, Geschäftsführern, Bezirks- und Landesvertretern sprach er vornehmlich die katholischen Arbeiter an, schulte sie in Versammlungen, sozialpolitischen Kursen und Konferenzen und hielt sie durch seine Publikationen in ständigem Kontakt mit der Zentrale, die in Mönchengladbach aufgebaut wurde. Dort wirkte der als Vorsitzende gewählte Franz Brandt, der mit seinem Verband Arbeiterwohl schon bewiesen hatte, daß er für die mit der Industrialisierung hervorgerufenen Nöte der Arbeiter ein offenes Ohr hatte.

Er wie auch sein Amanuensis Franz Hitze waren zwar zunächst noch von patriarchalischen Vorstellungen ausgegangen, doch akzeptierten sie nach und nach den Arbeiter als Mitspieler und sahen in ihm nicht mehr ein der Fürsorge bedürftiges Kind. Das schlug sich auch im Volksverein nieder. Nach einem Jahr hatte der Verein schon über 100 000 Mitglieder und nahm weiterhin, auf die Länge der Zeit gesehen, schnell zu. Am Vorabend des 1. Weltkrieges erreichte er über 8000.000 Mitglieder. Zum Vergleich: die Sozialdemokratie brachte es damals auf etwas über eine Million Mitglieder.


In der Ortsgruppe fand er Gleichgesinnte. Der Verein gab ihm das Gefühl einer Beheimatung und den Schutz des katholischen Milieus. Außerdem aber konnte er über die vom Verein angebotene sozialpolitische Weiterbildung den Anschluß an die moderne Welt gewinnen. Dadurch wurde auf die Dauer das die Katholiken im Vergleich mit anderen Bevölkerungsgruppen kennzeichnende Kultur- und Sozialgefälle aplaniert.

Was Urs Altermatt für die Schweiz festgestellt hat, gilt cum grano salis auch für das katholische Deutschland:
Die katholische Vereinsarbeit war ein Stück Modernisierung. Sie förderte die Emanzipation der Laien vom Klerus. Bewußt hatte der Volksverein zum Beispiel nicht das Präsidesprinzip der Arbeitervereine übernommen. Und schließlich hat die vereinsarbeit unter seinesgleichen auch zur Einübung der Demokratie beigetragen.

Zunächst erstaunlich erscheint es, daß dieser Laienverein zu Beginn seine Organisation und auch seine intellektuelle Lenkung weitgehend Klerikern überließ, von denen viele volkswirtschaftliche Autodidakten waren. Doch wurde durch die Berufung von Männern wie Franz Hitze, August Pieper, Wilhelm Hohn, Heinrich Brauns, Anton Heinen, Carl Sonnenschein und Ludwig Nieder der Eindruck vermieden, der Verein setze sich bewußt vom Klerus ab.
Andererseits sahen sie sich im sogenannten Gewerkschaftsstreit von einigen Bischöfen und integralistischen Laien Verdächtigungen ausgesetzt, die ihre priesterliche Treue in Zweifel zogen.
Die damalige, den Katholizismus in den Fundamenten erschütternde Auseinandersetzung ist nicht nur ein frühes Beispiel der Zusammenarbeit katholischer und evangelischer Christen, sondern auch ein Stück der Emanzipation der katholischen Arbeiter. Anders als etwa Bauern und Kaufleuten sollte ihnen verwehrt bleiben, sich einer christlichen, aber überkonfessionellen Vereinigung anzuschließen. Außerdem wurde ihnen das Kampfmittel des Streiks versagt.
Für den Fürstbischof von Breslau, Georg Kopp, der schon als Bischof von Fulda im Septennatsstreit mit Windthorst die Klingen gekreuzt hatte, war es noch 1910 unstrittig, daß der Streik zum Klassenkampf führe. Im gleichen Jahr verstieg er sich dann in einem Brief zu der Äußerung von der "Verseuchung des Westens" durch den Volksverein. Es folgte ein weiteres Schreiben, in dem dem Volksverein das Schicksal der soeben durch den Papst verurteilten Silon-Bewegung Marc Sagniers angedroht wurde.
Die Männer des Volksvereins charakterisierte Kopp mit einem Zitat aus dem 2. Petrusbrief:"Sie sind wasserlose Brunnen, Nebelwolken, vom Sturm gejagt, auf sie wartet der Abgrund der Finsternis."

Daß es nicht so kam, verdankte der Volksverein vor allem dem Kölner Kardinal Antonius Fischer, der ihn unter seine schützenden Fittiche nahm. Oswald von Nell-Breuning hat 1972 den Gewerkschaftsstreit als "eines der traurigsten und beschämendsten Ereignisse der deutschen Kirchengeschichte" bezeichnet. Sicherlich haben die beiden besagten Bischöfe dadurch Vertrauen bei den Arbeitern verloren. Ob sie dadurch aber auch Anhänger verloren haben, wie von Nell-Breuning meint, ist fraglich, da beim Volksverein kein Einbruch bei den Mitgliederzahlen zu bemerken ist.
Der Generaldirektor des Volksvereins, August Pieper, hat den Anstieg der Mitgliederzahlen nach 1900 sogar auf das Entstehen der Christlichen Gewerkschaften zurückgeführt. Das habe die "Wende" gebracht. Das habe den Verein zur "Volksbewegung" gemacht. Und das erste Jahrzehnt sei im Vergleich dazu eher ein "Säen auf Pflastersteinen" gewesen.

Wir dürfen übrigens den Gewerkschaftsstreit, bei dem es eher ums Prinzip ging, Evangelische traten kaum bei, nicht isoliert sehen. Er steht im Zusammenhang mit anderen Fehden im deutschen Katholizismus wie etwa dem Literaturstreit, dem Zentrumsstreit, dem Reformkatholizismus, die sich alle um die Frage-drehten, "ob Kultur, Politik, Sozialordnung oder Wirtschaft, auch unmittelbar vom Glauben her zu ordnen" seien, wie es Klaus Schatz formuliert hat.

Es ist verwunderlich, daß die Änderungen der Vereinssatzung im Jahre 1906, die die antisozialistische Komponente des Vereinsauftrags strich, nicht ähnliche Reaktionen wie im Gewerkschaftsstreit hervorgerufen hat. Wie Heinz Hürten bemerkt hat, betrachtete sich der Verein von nun an als "Generalstab aller katholischen Vereine". Zweck sollte sein "die Förderung der christlichen Ordnung in der Gesellschaft, insbesondere die Belehrung des deutschen Volkes über die aus der neuzeitlichen Entwicklung erwachsenen sozialen Aufgaben und die Schulung zur praktischen Mitarbeit an der geistigen und wirtschaflichen Hebung aller Berufsstände." Mitarbeit, das bedeutete nicht anderes als Akzeptanz der durch die industrielle Revolution veränderten Lebensumstände.

Die vom Volksverein begonnene pädagogische und publizistische Tätigkeit, die nun ganz in den Mittelpunkt rückte, hat große Teile der deutschen Katholiken, nicht nur die Arbeiter, erreicht. Bis 1918 hat der Verein z.B. über 95 Millionen Flugblätter verteilt; außerdem eine Fülle von Zeitschriften verschiedenen Niveaus und Zeitungen, darunter die Westdeutsche Arbeiterzeitung, selbst herausgebracht und redigiert.
In den praktisch-sozialen Kursen, die es schon 1892 gab, wurde angestrebt, auch Arbeiter im wahrsten Sinne des Wortes mündig zu machen. "Hat man einmal", so heißt es bereits nach dem ersten dieser Kurse in der Kölnischen Volkszeitung, "einen solchen Kursus mitgemacht, so wird man nicht mehr das Studium der sozialen Frage aus dem Gesicht verlieren, und es ist auch sicher, daß man freudiger, klarer und sicherer praktisch in seinem Kreise durch Belehrung und Tat hervorgeht."
Diese Kurse wurden kurz nach der Jahrhundertwende ausgebaut. Mit den großen "Volkswirtschaftlichen Kursen" von zehn Wochen begann der Volksverein "eine bis dahin auch der Sozialdemokratie und den geldkräftigen freien Gewerkschaften unbekannte Schulungsveranstaltung", wie Emil Ritter, zeitweise Mitarbeiter des Volksvereins, nicht ohne Stolz vermerkt. Hier bewährte sich insbesonders Heinrich Brauns, der die Teilnehmer intellektuell forderte, "Geschwafel" zurückwies und vor den Gefahren der Halbbildung warnte.
Spötter hatten schon bald den Begriff "Mönchengladbacher Klippuniversität" erfunden. Um auch die Theologen mit der modernen Arbeitswelt vertraut zu machen und sie zu lehren, die durch die Industrialisierung modernisierte Welt zu akzeptieren, entstanden die "Sozialen Konferenzen" des Klerus. Der preußische Staat wurde ebenfalls aufmerksam und richtete in Münster einen Lehrstuhl für christliche Sozialwissenschaften ein, den einer der Gründungsväter des Volksvereins, Franz Hitze, 1893 einnahm.

Der Akademiker, insbesondere der Studenten, nahm sich Carl Sonnenschein an. Er wollte die Studenten mit der Arbeitswelt vertraut machen und die Kluft zwischen ihnen und den Arbeitern überwinden helfen.

Bei der Erwachsenenbildung setzte der Volksverein auf moderne Hilfsmittel. Im Jahre 1910 richtete er die sogenannte "Lichtbilderei" ein, die neben Bildserien auch Kinofilme ankaufte und produzieren ließ. Bereits ein Jahr nach der Gründung bot sie schon 600 Filme an und verlieh auch Apparate und sonstiges Zubehör für Filmvorführungen.
Nach der Jahrhundertwende war der Verein auch in die Buchproduktion eingestiegen mit eigenem Verlag und Druckerei. Dort wurden, um eine Zahl zu nennen, von 1906 bis 1912 über 4,5 Millionen Serienschriften gedruckt, darunter die Mitgliedszeitschrift "Der Volksverein" mit 8 Heften, deren Bezug im Jahresbeitrag von 1,-M enthalten war.

Von Anfang an baute der Verein eine eigene Bibliothek auf, die bewußt auch die Literatur der sozialpolitischen Gegner sammelte und schließlich auf 94 000 Bände anwuchs, die ausgeliehen und aus denen Auskünfte erteilt wurden. Die ebenfalls von der Gründung an bestehende Soziale Auskunfts stelle beantwortete jährlich etwa 3000 Anfragen.

Die Hinwendung zum allgemeinen Katholikenverein, zum katholischen Dachverein ab 1906 ging nicht ohne Friktionen ab. Als 1908 durch Reichsgesetz auch den Frauen die Mitgliedschaft in politischen Vereinigungen möglich wurde, versuchte der Volksverein bei den Frauen für seine Ziele zu werben. Dazu entstand die Zeitschrift "Die Frau im Volksverein". Doch der katholische Frauenbund, der schon seit einigen Jahren bestand, fühlte sich dadurch in seiner Existenz bedroht. Der Volksverein mußte zurückstecken.

So etwas wie ein "katholisches Festungsdreieck" aus Volksverein, Frauenbund und katholischer Partei, wie es die Schweiz kannte, ist daher in Deutschland nie entstanden. Nur die enge Verbindung zwischen Volksverein und Zentrum nahm ähnliche Formen wie in unserem Nachbarland an. Führende Köpfe des Vereins saßen in den Parlamenten, und Franz Hitze war einer der entscheidenden Sozialpolitiker der Par tei. Gelegentlich auftauchende Kontroversen, etwa zwischen Hitze und Georg von Herteling über die Frage, wie weit der Staat die Wirtschaft lenken dürfe, haben dabei nie ein großes Echo gefunden. Das, was man damals Sozialreform und später soziale Partnerschaft genannt hat, blieb unangefochten. Der Einklang zwischen Verein und Partei war selbstverständlich. Das Zentrum verzichtete deshalb auch auf eigene Schulungseinrichtungen, um dem Verein keine Konkurenz zu machen.

Das wurde 1918 anders.
Nicht nur die Zentrumspartei begann schließlich mit einer eigenen Bildungsarbeit, son dern auch die Christlichen Gewerkschaften richteten Bildungskurse ein. Andere Vereine, wie etwa der katholische Schulverein, besetzten Arbeitsfelder des Volksvereins. Die Mitgliederzahlen sanken sichtbar. Bedeutende Führungskräfte und Mitarbeiter gingen in die Politik, wo sie in der jungen Demokratie gebraucht wurden. Am bekanntesten darunter ist Heinrich Brauns, der als langjähriger Reichsarbeitsminister im Arbeitsrecht Vorstellungen des Volksvereins, etwa die Weiterentwicklung des Betriebsverfassungs-, des Tarif- und te des Schlichtungsrechts, verwirklichte.

Für den katholischen Arbeiter bot der Verein zweierlei:

So Dieser Aderlaß belastete den Volksverein schwer. Aber die eigentliche Krise war eine Identitätskrise. Für die Parität der Katholiken in Staat und Gesellschaft mußte nicht mehr in gleicher Weise wie vor 1918 gestritten werden, nachdem man selbst zu einer der tragenden Säulen des neuen Staates geworden war.
Die jetzt einsetzende langsame Auflösung des katholischen Milieus, der katholischen Sondergesellschaft, traf den Verein als ersten, der das Verlassen des Ghettos propagiert und auf die Modernisierung der Lebensverhältnisse gesetzt hatte.
August Pieper, Anton Heinen und Ludwig Nieder sahen, daß das überlieferte Konzept, von ihnen vereinfachend mit "Zuständereform" umschrieben, überholt war. Es müsse nun durch eine "Gesinnungsreform" abgelöst werden. Pieper sprach in Anlehnung an den Soziologen Friedrich Tönnies von einer "seelischen Vergemeinschaftung", die im Gegensatz stehe zu der "zusammenhaltlosen Masse". Damit hätte der Volksverein konsequent vom Massenverein Abschied nehmen müssen hin zu "kleinen, intimen Kreisen", wie sie Heinen vorschwebten.
So weit wollte Pieper nicht gehen. Er hoffte, der Volksverein werde zu einem reinen Bildungsverein, der die "gemeinschaftsbildenden irrationalen Lebenskräfte" pflegen würde. Dieses neue konfuse Konzept stieß bei vielen Mitarbeitern auf der unteren und mittleren Ebene auf Unverständnis und Ablehnung. Sie forderten mehr auf die Praxis bezogene Handreichungen als sozialphilosophische Artikel. Doch war, wie Emil Ritter schreibt, "die Stimme, die einst im katholischen Deutschland als Orakel in sozialen Angelegenheiten gegolten hatte, verstummt".
Der "Gemeinschaftsquatsch", auf diesen drastischen Begriff reduzierte der Verbandspräses der westdeutschen Arbeitervereine, Otto Müller, die Diskussion, beherrschte das Denken der Führungsspitze des Volksvereins. Ein Vorstoß Müllers, 1922 im Auftrage der Fuldaer Bischofskonferenz "das Werk so verdienter Männer wie Brandts und Hitze zu retten", blieb erfolglos. Vorschläge, der Volksverein solle mit der Schulorganisation, der Caritas und selbst der liturgischen Bewegung sich eng verbinden, um wieder Schwung zu bekommen, wurden von Pieper entschieden zurückgewiesen. Er rief zwar die Katholiken auf, sich angesichts der herrschenden materiellen Not auf die christliche Bruderliebe zu besinnen, hob aber die "innere Umwandlung, die Wiedergeburt des Menschen" an Stelle der früheren praktisch-sozialen Ausrichtung des Vereins hervor. Der Volksverein war mit Pieper und Heinen in ein verhängnisvolles Fahrwasser geraten.

Unter dem letzen Generaldirektor Johannes Joseph van der Velden, der 1929 die Leitung übernahm, begann der Volksverein, der auch noch in finanzielle Turbulenzen geraten war, dennoch wieder Tritt zu fassen. Van der Veldens an die Enzyklika Quadragesimo anno anklingendes Programm

  • vom Kampf "gegen den gottlosen Sozialismus und Bolschewismus",
  • Schulung der Laien "
  • für den apostolischen Einsatz",
  • Verchristlichung der Welt,
  • Unterstützung der konfessionellen Schule,
  • Abwehr des mammonistischen Kapitalismus und des materialistischen Sozialismus,
  • Förderung der christlichen Wirtschaftsethik als dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus

schien anzukommen.

Wie weit seine Absicht, "Führerschulung" und "Wiedererweckung der breiten Volkmassen", miteinander in Einklang zu bringen war, ist nicht zu beantworten, da der Volksverein unter den Nationalsozialisten unterging. So muß auch die Frage dahingestellt bleiben, ob die Einbeziehung des Volksvereins in die sogenannte katholische Aktion und damit stärkere Anbindung an den Episkopat lange tragfähig gewesen wäre.
Richtungsweisend war sicherlich van der Veldens letzte Schöpfung, das 1932 eingerichtete Institut für Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, das mit hochrangigen Soziologen und Volkswirtschaftlern besetzt war und "Kräfte für die Erneuerung des sozialen Lebens aus dem Geiste der Religion" wecken sollte.

Der Volksverein ist nach 1945 trotz Fürsprache etwa Konrad Adenauers nicht mehr wiederbelebt worden.

Das hatte vielerlei Gründe.
Zunächst stand das Pfarrprinzip im Vordergrund. Landesweite Verbände waren den Bischöfen unerwünscht. Das Scheitern des Volksvereins als Massenverein in der Weimarer Republik war noch in frischer Erinnerung und ein überzeugender Plan für eine Rekonstruktion unter Vermeidung alter Fehler lag nicht vor. So gab es auch keinen Universalerben. Es entstand zwar nach 1945 schließlich doch ein dichtes Netz von Sozialvereinen, es wurde eine katholische-sozialwissenschaftliche Zentralstelle in Mönchengladbach angesiedelt, wo sich die Volksvereinsbibliothek und einige schriftliche Nachlässe erhalten haben. Es wurden die Sozialen Seminare ins Leben gerufen, in denen an die Glanzzeiten des Volksvereins mit seinen sozialen Kursen angeknüpft werden sollte.
Alle haben in irgendeiner Weise ein wenig aus dem Erbe des vor hundert Jahren gegründeten Vereins in unsere Zeit hinübergerettet.

Wenn wir uns heute an den Volksverein erinnern, so dürfen wir ihn als den gelungenen Versuch feiern, die katholischen Arbeiter aus ihrer Unmündigkeit und die Katholiken aus ihrem Inferioritätsgefühl befreit und den Weg aus dem Exil in die Moderne gewiesen zu haben.

Literaturhinweis:

U. Altermatt, Katholizismus und Moderne, Zürich 1989;
H.Heitzer, Der Volksverein für das katholische Deutschland 1890-1914, Mainz 1979;
H. Hürten, Kurze Geschichte des deutschen Katholizismus 1800-1960, Mainz 1986;
E. Ritter, Die katholisch-soziale Bewegung Deutschlands im 19. Jahrhundert und der Volksverein, Köln 1954;
K. Schatz, Zwischen Säkularisation und Zweitem Vatikanum, Der Weg des deutschen Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1986;
G. Schoelen, Bibliographisch-historisches Handbuch des Volksvereins für das katholische Deutschland, Mainz 1982.

Quelle: Renovatio, 46. Jahrgang 1990, S. 119-126