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Aller guten Dinge sind drei – Nochmals Gregors Briefe, diesmal vollständig (Cod. 95)

Handschrift des Monats Oktober 2025
Datum:
1. Okt. 2025
Von:
Dr. Harald Horst
Ein Löwe, der sich in den Schwanz beißt, ein Kentaur, der Drachen jagt – der Buchschmuck dieser Handschrift zeugt von überbordender Phantasie und großem Können. Dabei hat sie doch „nur“ die Briefe von Papst Gregor dem Großen zum Inhalt. So wird freilich eine einfache Texthandschrift zum kunstvollen Prachtcodex!
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Die Ursprünge der Kölner Dombibliothek gehen bekanntermaßen auf Erzbischof Hildebald zurück, der von 787 bis 818 amtierte. Er etablierte an der Kathedrale nicht nur eine Schreibschule (Skriptorium), sondern sorgte auch für einen Grundstock an extern hergestellten Büchern für pastorale und verwaltende Tätigkeiten. Seine Nachfolger und die Mitglieder des Domkapitels vermehrten den Bestand der Bibliothek über die Jahrhunderte hinweg reichlich, so dass von wichtigen Werken nicht selten mehrere Exemplare vorhanden sind. So auch die Briefe des Papstes Gregor I., die im vergangenen Monat vorgestellt worden sind: Die beiden Handschriften aus dem Beginn des 9. Jahrhunderts mit dieser Sammlung wurden im 12. Jahrhundert durch einen neu angefertigten Codex ergänzt, der insbesondere aus kunsthistorischer Sicht Beachtung fand. Denn im Gegensatz zu den karg ausgestatteten Codices 92 und 93 aus der Karolingerzeit quillt die jüngere Handschrift nahezu über von Schmuckelementen (fol. 161v).

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Für die Dombibliothek stellte sie vor allem aus inhaltlicher Sicht eine wichtige Ergänzung der älteren Codices dar: Sie enthält nicht nur wie jene die 254 Briefe der Sammlungen C und P, sondern mit insgesamt 851 Abschriften fast alle Gregor-Briefe (bis auf drei), die auch im Registrum epistolarum der päpstlichen Kanzlei enthalten waren. Durch eine detaillierte Gliederung, Erschließung und Strukturierung der Papstbriefe wird der Codex dieser Textmenge Herr. So beginnt Cod. 95 mit einem 21 Seiten umfassenden Gesamtregister der kopierten Briefe, die er in 15 Bücher entsprechend den Amtsjahren des Papstes einteilt. Das Register endet mit der skurrilen Federzeichnung eines Löwen, der sich in den Schwanz beißt (fol. 11v). Die Zeichnung ist exakt dem letzten Satz in der Spalte eingepasst und stammt daher mit Sicherheit vom Schreiber oder der Schreiberin selbst.

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Die Einteilung der Briefe wie auch des Gesamtregisters folgt der Zählung nach Indiktionen, d.h. nach den Zeiträumen der spätantiken römischen Steuerberechnung, die im Mittelalter häufig parallel zu Regierungs- oder Jahreszahlen verwendet wurde. Zu Beginn der 15 Bücher oder Indiktionen finden sich erneut die jeweiligen Inhaltsangaben (capitula) aus dem Gesamtindex. Sorgfältig sind diese strukturiert durch Rubriken wie Incipit und Explicit sowie die am Rand verzeichnete, ebenfalls in roter Schrift ausgeführt Kapitelzählung (fol. 140v).

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Der künstlerische Wert der Handschrift besteht aus den 17 großen Spaltleisteninitialen, die den Beginn jeder Indiktion markieren wie auch den ersten Gregorbrief, der hier als Glaubensbekenntnis (symbolum) bezeichnet wird (fol. 13r). Der 2. Brief der 6. Indiktion, eine Trostschrift Gregors in Zeiten von Krankheit und Hungersnot in Rom, ist ebenfalls mit einer Spaltleisteninitiale versehen (fol. 144v). Bei dieser Art der Initialen sind die Buchstabenschäfte mit Tinte oder Minium konturiert und in ihrer Mitte scheinbar gespalten; metallene Bänder oder Spangen halten die auseinanderdrängenden Teile zusammen, die hier am Ende und im Binnenfeld des Buchstabens in Ranken und Blättern auslaufen. Aus den Flechtbandinitialen des frühen Mittelalters hervorgegangen, erfreuten sie sich seit dem 11. Jahrhundert größter Beliebtheit: In Zeiten der Kirchenreform und Armutsbewegungen verschafften sie Buchmalern die Möglichkeit, trotz Verzichts auf goldgeschmückte Miniaturen ihre Handschriften reichhaltig auszustatten.

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Die Lokalisierung und Datierung von Handschriften, die mit Spaltleisteninitialen geschmückt sind, wird durch ihre Verbreitung allerdings eher erschwert. In Cod. 95 weisen die Initialen auf rotem und grünem Grund nicht nur Blattranken, sondern auch figürliche Elemente auf. Neben den Jagdszenen auf fol. 140v (Kentaur jagt Löwen) und 161v (Hund jagt Hasen) zeigt der oder die Buchmaler/-in eine Vorliebe für geflügelte Drachen, etwa in den Q-Initialen von fol. 128r und 154r. Nach Joachim Plotzek entspricht das Formenrepertoire der rheinisch-maasländischen Buchmalerei des 12. Jahrhunderts. In dieser Kunst finden sich Einflüsse aus Lüttich und Averbode, die in Klöstern wie St. Heribert (Deutz), Groß St. Martin und St. Pantaleon aufgenommen und weiterentwickelt wurden; zisterziensische Formen darin könnten über Himmerod oder Altenberg vermittelt worden sein. Ein konkreter Entstehungsort von Cod. 95 lässt sich allerdings nicht benennen.

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Paläographisch ist Cod. 95 ebenfalls ins frühe bis mittlere 12. Jahrhundert einzuordnen: Die spätkarolingische Minuskel hat schon deutliche Ober- und Unterlängen, die Oberlängen von b, d, h und l tragen meist keilförmige Anstriche, die Buchstaben sind schmal und enger zusammengerückt – alles Anzeichen für die Gotisierung der Minuskel, die zu dieser Zeit schon fortgeschritten ist und durch Schaftbrechung und Buchstabenverschmelzung vollendet werden wird. Insgesamt sticht die Handschrift aber doch dank ihres Buchschmucks hervor (fol. 144v). Der Kölner Sammler und Domvikar Alexander Schnütgen fand ihn offenbar so bemerkenswert, dass er in der von ihm herausgegebenen „Zeitschrift für Christliche Kunst“ drei Initialen sowie die Löwenzeichnung von fol. 11v als Schmuckelemente für zwei Artikel verwendete. Ganz nebenbei machte Schnütgen damit auf diesen und andere Schätze der Dombibliothek aufmerksam, die zu seiner Zeit noch nicht so bekannt waren wie heute.

Digitalisate der Handschrift Cod. 95 und weitergehende Informationen können jederzeit über die Digitalen Sammlungen der Diözesanbibliothek abgerufen werden: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:kn28-3-3197.

 

Abbildungen:

Cod. 95, fol. 161v: Initiale F am Beginn der Briefe der 8. Indiktion (lib. XV)

Cod. 95, fol. 11v: Federzeichnung eines Löwen am Ende des Gesamtregisters

Cod. 95, fol. 140v: Initiale Q am Beginn der 5. Indiktion (lib. XII)

Cod. 95, fol. 13r: Initiale C am Beginn der Briefsammlung mit Indiktion 9 (lib. I)

Cod. 95, fol. 128r und 154r: Q-Initialen mit geflügelten Drachen

Cod. 95, fol. 144v: Initiale M am Beginn der 6. Indiktion und Initiale O zu Brief 2 (lib. XIII)

 

Ansprechpartner:

Herr Dr. Harald Horst
Telefon: 0049 221 1642 3796 

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