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Architektur in Echtzeit - Der Hillinus-Codex (Cod. 12)

Handschrift des Monats November 2022 
Datum:
1. Nov. 2022
Von:
Dr. Harald Horst
Aufgrund der realistischen Darstellung des Alten Kölner Doms gilt der sogenannte Hillinus-Codex als berühmteste und wertvollste Handschrift der Dombibliothek.
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Köln im frühen elften Jahrhundert. Zwei Mönche aus dem Süden des Reichs, die sich schon lange nicht mehr gesehen haben, treffen dort wieder zusammen. Burkhard und Konrad sind Brüder – nicht nur im Glauben, sondern auch von ihrer Abstammung her. Der eine erlernte auf der Klosterinsel Reichenau die Kunst der Buchmalerei auf höchstem Niveau, der andere war in Seeon – ebenfalls auf einer (Halb-)Insel – zum Schreiber ausgebildet worden. In Köln treffen sie auf Hillinus, einen bis dahin unbekannten Domherren, der sie beauftragt, eine Prachthandschrift anzufertigen. Zum Heil seiner Seele will er sie dem heiligen Petrus schenken, dem Patron des Kölner Doms. Womöglich will er damit auch einer Bewerbung auf den Bischofssitz Nachdruck verleihen. Zum Erzbischof hat es dann zwar nicht gereicht – dafür aber wurde der sogenannte Hillinus-Codex zur wohl berühmtesten Handschrift der Kölner Kirche (Cod. 12, fol. 16v).

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Berühmt wurde er vor allem dadurch, dass der Buchkünstler dort ein architektonisch genaues Bild der Kölner Doms eingefügte. Auf dem Widmungsbild ist zu sehen, wie Hillinus den fertigen Codex dem hl. Petrus überreicht. Der Schutzpatron der Domkirche sitzt jenseits eines zur Seite gezogenen Vorhangs, ganz von Gold umgeben, das seine Transzendenz andeuten soll. Die Säulen rechts und links von ihm sollten wohl ursprünglich gemäß Reichenauer Maltradition einen mehrgliedrigen Giebel tragen. Nun aber bilden sie die Stützen für eine Abbildung des Doms in seiner Gestalt um 1020 – eine für diese Zeit absolut ungewöhnliche, ja einmalige Darstellung. Ihre großartige Bestätigung fand diese Zeichnung einer dreischiffigen Basilika mit zwei Chören und vier Querarmen durch die Ausgrabungen des 20. Jahrhunderts, bei denen man auch das hier rot-grün dargestellte Rautenmuster des Fußbodens wiederfand. (fol. 3r)

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Der Codex bietet noch mehr kostbare Malereien, es handelt sich schließlich um ein Prachtevangeliar. Gemäß kölnischer Tradition steht zum Beispiel am Anfang der Handschrift ein Porträt des Bibelübersetzers Hieronymus (fol. 4v). Auch er sitzt vor Goldgrund unter einem kirchenartigen Gebäude, dessen Architektur aber diesmal den Vorgaben der Reichenauer Schule folgt – man denke etwa an das Perikopenbuch Heinrichs II. (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 4452, ca. 1007-1012). Ein Schreiber links im Bild fertigt offenbar die Niederschrift des lateinischen Bibeltextes an, während Hieronymus mit Federmesser und Gänsekiel dessen Fehler korrigiert. Rechts im Bild sitzt ein noch junger Mönch, der seine Schreibfertigkeit nur auf einer Wachstafel erproben darf. Mit der Überwachung gleich zweier Schüler scheint der schielende Heilige allerdings ein wenig überfordert zu sein.

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Die sich anschließenden zwölf Kanontafeln greifen erneut Reichenauer Vorbilder auf (fol. 11v). Der runde Giebel etwa, der auf marmorierten Säulen ruht und mit die Köpfe wendenden Löwen und herzförmigen Blättern ausgeschmückt wurde, zeigt deutliche Parallelen zum Evangeliar Kaisers Otto III. in München (Bayerische Staatsbibliothek, Clm 4453, um 1000). Auf anderen Tafeln tragen die Kapitelle der korinthischen Säulen maskenähnliche Gesichter, die womöglich auf Trierer Einfluss zurückgehen.

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Wie Hieronymus und Petrus sitzt auch der Evangelist Matthäus vor flächig aufgebrachtem Goldgrund auf einem beeindruckenden Faldistorium (fol. 22v). Der Codex in seinem Schoß könnte das Alte Testament andeuten, dessen Prophetien und Erzählungen die Grundlage für seine Darstellung des Lebens Jesu bildet. Seine Inspiration indes erhält der Evangelist von erkennbar höherer Stelle: Der Engel über ihm – gleichzeitig sein Evangelistensymbol – hält den Beginn des Evangeliums mit dem „Stammbaum Jesu Christi, des Sohnes Davids“ in Händen, welchen Matthäus auf seinem Pult nahtlos fortführt: „des Sohnes Abrahams“.

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Die Porträts der drei anderen Evangelisten sind womöglich verloren gegangen oder wurden nie angefertigt. Alle Evangelien beginnen aber mit einer rankengeschmückten Initialzierseite auf purpurnem Grund, der als kostbar gilt und priesterliche oder kaiserliche Macht symbolisiert. Am schönsten ist sicher die Initiale „Q“ am Beginn des Lukasevangeliums, in deren innerem Oval ein „struppiger Vogel“ (U. Surmann) sitzt und dessen Vorbild sich wieder im Kaiserevangeliar Ottos III. findet (fol. 109r). Trotz aller Rückgriffe auf bekannte Elemente der Buchmalerei haben die Brüder Burkhard und Konrad im Auftrag des Domherrn Hillinus in Köln ein einzigartiges Kunstwerk geschaffen, das den zum Weltkulturerbe erklärten Handschriften von der Reichenau in nichts nachsteht.